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Ein Bericht im Teckbote vom 25.02.2022 von Anke Kirsamer | Foto Carsten Riedl

Mit der Trompete hoch hinaus

Der Kirchheimer Tobias Frodl gehört mit 14 Jahren bereits zu den Turmbläsern. Am morgigen Samstag steigt er mit drei weiteren Bläsern wieder die 112 Stufen zur Turmstube des Rathauses hinauf.

Turmbläser 2022

Es ist kurz vor halb zwölf. Ein ganz normaler Samstag in Kirchheim. Von hier oben gleicht das Treiben in der Fußgängerzone einem lebendigen Wimmelbild: Auf dem Markt drängen sich die Menschen, Kinderwagen schiebende Mütter und Väter biegen um die Ecke, zwei Mädchen hüpfen Richtung Stadtbücherei und skandieren voller Vorfreude: „Karussell, Karussell!“ Während sich einige Passanten vor dem Rathaus ein windstilles Plätzchen suchen und erwartungsvoll nach oben blicken, stimmen sich vier Bläser in der Turmstube ein. Wie zuvor die 112 Stufen hinauf zu ihrer „Muckenstube“, klettern die Trompeter und Posaunisten behände die Tonleiter in F-Dur nach oben. Noch sind die Dreiklänge nicht perfekt. „Guck, dass du den Ton stützt. Halt‘ die Trompete am besten mit beiden Händen“, sagt Heribert Diemer zu Tobias Frodl. „Die Viertel vor dem Atmen nicht wegschmeißen. Der Ton muss noch klingen.“ Seit einem halben Jahr gehört der 14-Jährige zum Team der Turmbläser. Heribert Diemer und Tobias Frodl trennen fast 70 Jahre. Was sie eint, ist die Freude an der Musik. „Es ist für mich eine Ehre, dass ich mitspielen darf“, sagt der Jugendliche. Dabei glänzen seine Augen fast genauso wie sein silbernes Instrument in der Sonne. In der Bläserklasse der Freihof-Grundschule hatte der heutige Schlossgymnasiast die Liebe zur Trompete entdeckt. Wenn er sich zwischen dem Fußball und der Musik entscheiden muss, gewinnt bei dem Kicker, der beim TSV Ötlingen auf dem rechten Flügel spielt, meist die Musik. Froh ist er über das Verständnis, das seine Trainer aufbringen, wenn er wegen Proben oder einem Konzert hin und wieder nicht auf dem Rasen auflaufen kann. „Atemberaubend“, findet Tobias Frodl den Blick vom Rathausturm. Heute bietet sich eine besonders weite Rundumsicht. Hannibal und Fernsehturm markieren den Horizont im Nordwesten, auf der Autobahn ziehen die Laster vorbei, und auf der „Schokoladenseite“ thront die Teck zur Linken, rechts spitzt der Hohenneuffen aus der blauen Mauer. „So gut ist die Sicht nicht immer“, sagt Heribert Diemer begeistert. „,Ich freue mich‘, spielen wir heute“, kündigt er an. „Und wer sich nicht freut, ist selber schuld.“ Tobias Frodl jedenfalls freut sich, dass er wieder dabei ist. Wie oft er mit von der Partie ist, weiß er genau. Im vergangenen Jahr hatte er auf dem Turm bereits fünf Einsätze, dieses Jahr werden es insgesamt sieben sein. Von allen vier Seiten schickt das Quartett den bis zum Schafhof zu hörenden strahlenden Choral in die Stadt. Es ist genau dieses Strahlen, das Tobias Frodl an der Trompete fasziniert. Ihn beindruckt außerdem, dass sich mit nur vier Bläsern ein so kräftiger Klang und eine Vielstimmigkeit erzeugen lässt, „sodass es sich sehr gut anhört“. Auch dass sich mit gerade mal drei Ventilen durch den Ansatz sämtliche Töne hervorbringen lassen, findet er klasse. Um in immer höheren Sphären zu brillieren, übt er diszipliniert so gut wie jeden Tag eine halbe Stunde. Bis zum zweigestrichenen A bringt er es. „Ich habe den Ehrgeiz, noch mehr zu schaffen“, erzählt er. Bei der Musikauswahl ist er nicht wählerisch. Ob Rockiges, Pop oder klassische Stücke - „mir macht alles Spaß“, sagt der Neuntklässler. Beim Musizieren erlebt Tobias Frodl ein Gemeinschaftsgefühl, genauso, wenn die Trompete im Koffer mit unterwegs ist. Er schwärmt von einer Konzertreise nach Hamburg im vergangenen Jahr mit der Jugendkapelle und hofft, dass die wegen Corona pausierende Bigband am „Schloss“ bald wieder loslegt. Und es ist wohl noch etwas, das ihn in einem Alter an der Musik festhalten lässt, in dem viele ihr Instrument in die Ecke stellen. Mit seinem Freund Lennart Mühlherr hatte er als Drittklässler der Trompete die ersten Töne entlockt. Gemeinsam spielen sie heute in der Jugendkapelle und wie Tobias Frodl, so steigt auch Lennart Mühlherr - der schon mit zehn Jahren als Turmbläser begonnen hatte - regelmäßig samstags hinauf auf den Balkon des Rathauses. Beifall ist dem Nachwuchs so sicher wie den alten Hasen. „Da unten stehen unsere Fans“, sagt Heribert Diemer und winkt zu zwei älteren Damen hinunter, die den getragenen Weisen jede Woche an der gleichen Ecke lauschen. Wenn Tobias Frodl morgen erneut die steilen Treppen erklimmt, halten auch seine Eltern Monika und Stephan Frodl vor dem Rathaus für ein paar Minuten inne und schlendern anschließend wie viele Passanten beschwingt von der Musik über den Kirchheimer Markt.
Lesen Sie weitere geschichtliche Hintergründe zu den Kirchheimer Turmbläsern

Die Rechnungsbücher der Stadt Kirchheim reichen bis in das Jahr 1524 zurück. Im Rechnungsband Nr.1, Blatt 49 heißt es in einer Bürgermeisterrechnung von 1524 „item dem bleßer syn jarlon von Martini anno im XXIIII und wyder martini anno XXV (sten) jar: XXXX lib (rum heller)“. In den Rechnungsbüchern der Stadt Kirchheim wird seit dem 16. Jahrhundert auf die vielfältigen Aufgaben einer Stadt eingegangen, wie beispielsweise Besoldung für Stadtschreiber, Torhüter, Boten, Wächter und Bläser. Über den Bläser, einen Zinkenist und einen Posaunisten geht die Entwicklung 1674 in Kirchheim unter Teck zur Stadtmusici. 1682 folgt dann die Formulierung „collegio musico“ aus der sich 1832 schließlich die Stadtkapelle Kirchheim entwickelt hat.

Turmbläser hatten allgemein die Aufgabe, vom höchsten Turm die Stadt oder Burg vor Gefahren zu warnen. Zu den zu meldenden Gefahren gehörten herannahende Truppen und Banden, aber auch Brände, die wegen der Enge der Städte und der weit verbreiteten Holzbauweise sehr gefährlich waren.

Das Turmblasen entwickelte sich aus dem mittelalterlichen Abblasen („Stundenblasen“) des Türmers, zunächst in Form von stündlichen Signalen, später dann Choräle. Im deutschsprachigen Raum erreichte die Turmmusik im 15./16. Jahrhundert die Hochblüte und galt als städtisches Gegenstück der höfischen Trompeterzunft.

Das Choralblasen vom Turm ist auch in Kirchheim vermutlich erst mit dem Einzug der Reformation zur Tradition geworden. Dem geblasenen Choral kam eine besondere Bedeutung zu, da es eine Art der Predigt darstellte, die über die Häuser hinweg zu den Menschen getragen wurde. Die Gemeinde hörte den Choral und konnte zuhause oder auf der Straße mitsingen oder mitbeten.

Es ist (noch) nicht bekannt, ob die Kirchheimer Turmbläser seit ihrer ersten Erwähnung im Jahr 1524 ununterbrochen täglich, wöchentlich, ein- oder mehrmalig aufgespielt haben. Darüber geben die Rechnungsbände der Stadt keinen Aufschluss. Auch sind diese Bände nicht seit jenem Jahr fortlaufend überliefert, vielmehr ergeben sich kriegsbedingt erhebliche Überlieferungslücken im 16. und 17. Jahrhundert in den Beständen des Stadtarchivs.

Heutzutage wird von den Kirchheimer Turmbläsern jeweils der zum Kirchenjahr passende Choral, immer samstags um 11:30 Uhr, von allen vier Seiten des Rathausturmes abgeblasen. Die heutigen Turmbläser setzen sich aus aktiven und ehemaligen Musikern der Stadtkapelle sowie aus Musikern der Jugendkapelle Kirchheim zusammen.

Das Turmblasen in Kirchheim unter Teck lässt sich somit urkundlich bis auf das Jahr 1524 zurückverfolgen, was die Stadtkapelle Kirchheim unter Teck e.V., als Träger dieses historischen Erbes, dazu bewegt, das Kalenderjahr 2024 ganz im Zeichen dieser 500-jährigen Tradition zu begehen.